Weniger sind mehr by Karl-Otto Hondrich

Weniger sind mehr by Karl-Otto Hondrich

Author:Karl-Otto Hondrich [Hondrich, Karl-Otto]
Language: deu
Format: epub
ISBN: 9783593382708
Publisher: Campus Verlag
Published: 2013-05-01T16:00:00+00:00


Das wissenschaftlich geschaffene Kind

Nach heute gängigem Vorverständnis ist es die gewonnene Wahlfreiheit der Individuen, die für den Fall der Geburtenrate verantwortlich ist. Wohlstand, Bildung, Gleichberechtigung, Pille machen es möglich. Was aus dieser Sicht übersehen wird: Hinter den Freiheiten stehen steigende Ansprüche sozialer Systeme. Anders gesagt: Freiheiten verwandeln sich in soziomoralische Zwänge von guter Bildung, eigenem Einkommen, selbst gewähltem Beruf und verantwortlicher, harmonischer Partnerschaft.

Die Zwänge laufen zusammen zu der unabweisbaren Erwartung|144|, dies alles unter einem Hut zu vereinen und einen eigenen Ansehensstatus zu gewinnen – und verwandeln sich unversehens von sozialen in biologische Zwänge (gar von sozialen Schwierigkeiten in biologische Unmöglichkeiten). Die Zeugungsfähigkeit junger Männer ist nach einschlägigen medizinischen Untersuchungen geringer als in früheren Generationen.17 Für Frauen nimmt die Fruchtbarkeit nach dem 30. Lebensjahr rapide ab. Wie weit diese biologischen Tatbestände bereits gesellschaftlich durchformt sind, lässt sich schwer festmachen. Auf jeden Fall wirken sie in Verbindung mit gesellschaftlichen Tendenzen zu später Heirat und aufgeschobener Elternschaft als Geburtenunterbindungsgründe – und zwar gegen den Kinderwunsch der Betroffenen.

Geschätzte 15 bis 20 Prozent der Paare, die dem Anschein nach die Freiheit haben, Kinder zu bekommen, haben diesen Freiraum tatsächlich nicht. Sie selbst erfahren dies oft erst spät und schmerzlich.18 In immer mehr Fällen beginnt dann ein verzweifelter Versuchs-Irrtums-Prozess, die sozial-biologischen Zwänge doch noch zu durchbrechen und die (verloren gegangene oder nie gehabte) Freiheit zum Kind zu erkämpfen. Der entscheidende Verbündete in diesem Kampf ist die moderne Reproduktionsmedizin, die, beginnend mit Hormongaben über die In-vitro-Fertilisation bis hin zur umstrittenen Embryo-Adoption ein immer größeres Repertoire entfaltet,19 um mit wissenschaftlicher Kunst Kinder zur Welt zu bringen, die es ohne sie nicht gäbe. Immerhin sind in Deutschland laut Statistik in den vergangenen Jahren bereits 85 000 Kinder durch künstliche Befruchtung entstanden.20 Wie groß die weiteren wissenschaftlichen Möglichkeiten sind, kann man nur ahnen. Sie hinken in jedem Fall den reproduktiven Bedürfnissen der Familien hinterher. Nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an faktischer Freiheit begrenzt hier die Geburtenzahl.

Die Anstrengungen, Kosten und Enttäuschungen, die die betroffenen Paare auf sich nehmen, um gegen ein Amalgam von sozialen und naturhaften Widerständen doch noch Kinder zu bekommen, strafen diejenigen Lügen, die den Fall der Geburtenrate |145|auf Lust zur Selbstentfaltung, Bequemlichkeit und Dekadenz des modernen Menschen zurückführen wollen. Wenn es nun genau umgekehrt wäre: Wenn die Anforderungen in den verschiedenen Lebenssphären, für die die Anstrengungen zur künstlichen Zeugung beispielhaft stehen, die Geburten, die sie erleichtern sollen, letztlich verhindern? Das lässt sich mit besonderem Recht für die Anstrengungen von Geburten- und Familienpolitik schlechthin fragen. Sie kann hier und da kurzfristig Anreize zum Kinderkriegen schaffen, den säkularen Fall der Geburtenrate aber nicht aufhalten. Ihre Anstrengung ist doppelt verfehlt: als Bemühung an sich und als der Versuch einer Lebenssphäre – der Politik – einer anderen, nämlich der Familie, ihre Ziele und Mittel aufzuzwingen. Dass dies unter der Devise geschieht, die Familie zu »unterstützen«, macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil, die somit zum Sozialfall erklärte Familie glaubt am Ende selbst daran, der Unterstützung zu bedürfen, und schwankt zwischen Larmoyanz und trotziger Forderungshaltung, statt sich auf ihre eigene Kraft zu besinnen.



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